Sonntag, 10. Januar 2016

Wechselnde Pfade, Schatten und Licht. Im Labyrinth am Dreikönigstag.


Am frühen Nachmittag des Dreikönigstages komme ich an der Brühler Kirche St. Stephan vorbei, in der sich ein großes, begehbares Labyrinth befindet.
Wie oft wollte ich schon wieder einmal hierhin kommen... Heute. Hier und jetzt!

Der Vorraum ist hell und still. Ich öffne die Tür zum Kirchenraum. Ein graubraunes Halbdunkel kommt mit entgegen, erdet mich. Kalte Luft, warme Atmosphäre. Im Hintergrund leuchtet der Weihnachtsbaum.
Mein Blick verliert sich in den Linien des Labyrinths, ich war lange nicht mehr hier.

Rechts oben am Rand ist die Krippe aufgebaut, davor richtet ein älterer Herr seine Kamera auf einem Stativ aus. Seine Bewegungen sind präzise und konzentriert, während er sein Motiv einfängt und mich gleichzeitig beobachtet. Ich schaue ihn an und gehe auf ihn zu. Wir lächeln.
Er fotografiert in der Weihnachtszeit die Brühler Krippen. Die Fotos fügt er zu Filmen zusammen, die die Krippen für Menschen erlebbar machen, denen ein Besuch vor Ort unmöglich wäre. 
Während der Unterhaltung schweben unsere leisen Stimmen durch den hohen Raum und es scheint, als würden sie die Ruhe noch verstärken.

Ich gehe zu einer Bank, sammle mich, bete.
Und dann stehe ich vor dem Eingang des Labyrinths, setze den ersten Fuß hinein.

Die ersten Schritte führen mich gleich zur Mitte des Labyrinths – nein, nur ganz nah daran vorbei.  Egal wie oft ich auch das Labyrinth gehe, jedes Mal falle ich wieder darauf hinein. Immer fühlt es sich so an, als würde ich mit den ersten Schritten schon ankommen. Und jedes Mal steigt dann eine leichte Irritation in mir auf. Stets verbunden mit dem Geschmack der Enttäuschung, dass das schon alles gewesen sein könnte.

Ich habe Zeit, das Zentrum des Labyrinths bei diesen ersten Schritten in Ruhe anzuschauen, seine Wirkung auf mich zu spüren und gleichzeitig die Gesamtheit der darum herumliegenden Wege und Windungen in Augenschein zu nehmen.

Mein gemessenes Schreiten und einen-Fuß-vor-den-anderen-setzen passt nicht. Ich verändere meinen Gehweise und wechsle zum Pilgerschritt: Wiegeschritt, dann einen Schritt vor, Wiegeschritt, einen Schritt vor, Wiegeschritt, ...
Ich tauche ein in diesen Rhythmus, in diesen wiegenden Tanz, der immer wieder für einen kleinen Moment den Eindruck entstehen lässt, auf der Stelle zu treten. - In Wirklichkeit ist es aber das Sein selbst, die Präsenz im Augenblick, verbunden mit dem Schwungholen für den nächsten Schritt.

In diesem Labyrinth habe ich schon Seminare und Workshops gegeben, einmal selbst an einem sehr beeindruckenden Seminar teilgenommen.
Gedanken kommen und gehen, Bilder, Erinnerungen, Wortfetzen, ein Lied, Stimmen. Erfahrungen, die ich hier gemacht und miterlebt habe. Sie umspülen mich wie eine prickelnde Welle, dann sind sie wieder weg.

Mittlerweile habe ich mich von der Mitte entfernt. Wenn ich die schmalen Kehren gehe, an denen sich die Richtung ändert, komme ich manchmal aus dem Takt und setze den Fuß vor, der eigentlich gar nicht dran ist. Es ist egal. Aus einer ganz tiefen, beruhigenden Gewissheit heraus ist das egal.

Nun sind da Gedanken aus dem Alltag. Ich nehme sie wahr, beachte sie aber nicht weiter. Auch sie sind egal. Sie haben ihre Existenz und sind da. Solange ich nicht näher auf sie eingehe oder sie bewerte, lassen sie mich in Ruhe. Ein guter Deal, wie ich finde.

Einmal steigt ein Lächeln aus der Tiefe meines Herzens auf, ein paar Schritte weiter habe ich Tränen in den Augen. Ich hinterfrage nicht, woher diese Gefühlsregungen kommen. Sie sind gerade da, ich erlebe sie und lasse sie einfach durch. Meine Gefühlswelt macht Neujahrsputz.

Plötzlich bin ich weg. Abgetaucht in dieses rhythmische, meditative Gehen, bin nur noch. Wer weiß, wie lange ich schon gehe und wie lange ich noch gehen werde. Das Gehen wird zum Selbstzweck, der Weg ist das Ziel. Ich bin unterwegs.
Am Anfang hatte ich vielleicht noch ein Ziel. Jetzt gehe ich und komme dabei immer weiter, immer näher zu mir.

Beim Gehen kommt die Mitte aus allen möglichen Perspektiven in mein Gesichtsfeld. Sie ist ein Teil des Weges geworden, hat sich nahtlos eingefügt und nimmt keinen Sonderstatus mehr ein. Mal liegt sie in meiner Nähe, mal rechts und mal links von mir, dann ist sie wieder weit weg.
In einem Moment, in dem ich gar nicht damit rechne, macht der Weg eine Kehre und die Mitte liegt vor mir. Ich gehe direkt auf sie zu und in sie hinein. Beim Gehen in ihrem Inneren vollziehe ich ihre Kreisform nach.
Bevor ich mich wieder aus dem Zentrum herausbewege, folge ich einem Impuls und bleibe einen kurzen Moment auf dem Mittelpunkt stehen, die Arme ausgebreitet. Ein Arm zeigt zum Altar, der andere zur Nische mit den Opferkerzen vor der Madonna.

Ich lasse die Arme sinken und nehme meinen Weg wieder auf.

Mäandernde Wege, mäandernde Gedanken. Ich spüre, wie die klare, geordnete Architektur der Kirche auch auf mich klärend und strukturierend wirkt.
Das Zentrum des Labyrinths liegt in einer Achse mit dem Kreuz über dem Altar auf der einen Seite und der Madonna auf der anderen Seite. Sie kreieren eine Form von Kraft, die schon beim Betreten des Kirchenraums zu spüren, aber nicht gleich zu orten ist. Beim Gehen in diesem Energiefeld erschließt diese Kraft sich immer mehr.

Der Rückweg ist wichtig, er gehört dazu. Durch ihn bekommen die Wege nun ihrem Sinn und alles seinen Platz. So fühlt es sich jedenfalls für mich an.

Der ältere Herr arbeitet weiterhin vor und neben der Krippe. Es ist, als sei er in einer Blase der Stille, ein Teil der aktiven Meditation, die ich gerade erlebe.
Während ich mich nun immer mehr von der Mitte entferne, wachsen Kraft und Zuversicht, ich fühle mich stabiler und wacher, noch mehr in der Präsenz.

Wenn der Hinweg eine Klärung war, ist der Rückweg nun eine Firmung, eine Bestätigung und Festigung dessen, was ist und was ich bin.

Ein schönes Gefühl, mit dem ich gerne und in Dankbarkeit in dieses neue Jahr aufbreche.



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